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Gottfried Hofmann: In Memoriam Eckart Wilkens

Dr. phil. Hans-Herbert Eckart Wilkens
7. Juni 1942 – 24. Juli 2020

Die Vergangenheit werde erzählt.
Die Zukunft werde verheißen.
Die Gegenwart werde erkämpft.
Das Tote mag man wissen
*Eugen Rosenstock-Huessy: Soz. II, 1958, S. 23

Als ich die Nachricht von Eckarts frühem Tode bekam, konnte ich an seine Frau Sigrid am 26. Juli lediglich ein kurzes Beileidsschreiben schicken (vgl. Rundbrief August 2020, S. 13 f). Ich wurde damals gedrängt, einen längeren Nachruf zu verfassen, konnte dem aber nicht folgen, weil es mir unmöglich schien, nach kurzer Zeit bereits Worte zu finden für einen Mann, der seit 1974 mein Leben begleitet hatte in einer Weise, die ich in meiner Chronik beschrieben habe mit dem gewagten Zitat „in Gehorsam und Widerspruch“.

Im Herbst 2022, bei unserer letzten Jahrestagung, sprach mich Dr. Jürgen Müller erneut auf einen Nachruf an, und erst jetzt, im neuen Jahr 2023, will ich nun mit Bangen diesen Wunsch erfüllen: 50 Jahre nach dem Tode Eugen Rosenstock-Huessys und 60 Jahre nach der Gründung der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft. Es ist für mich wahrhaftig kein leichtes Unterfangen! Dieser Eckart mit seinen großartigen Begabungen als Pianist und Komponist, als Maler und Lyriker, als verständnisvoller Leser aller Werke Eugen Rosenstock-Huessys – was kann ich zu diesem Mann mir erlauben zu sagen oder gar zu kritisieren ?! Aber es muss wohl sein.

Eckart wuchs in einem gebildeten Elternhaus auf: der Vater erst Bibliothekar, später Pfarrer auf der Hallig Langeneß, einer seiner Brüder und ein Großvater ebenfalls Pfarrer. Lange Zeit wohnte die große Familie mit acht Kindern in Rendsburg, und zwar in der Nähe der bekannten Heimvolkshochschule. Er besuchte die Herder-Schule in Rendsburg, ein humanistisches Gymnasium, machte am 6. Februar 1962 Abitur und studierte an der Musikhochschule in Köln Klavier und Komposition bei B.A. Zimmermann und dann an der Universität Köln Kunstgeschichte und vergleichende Musikwissenschaft bei Marius Schneider. Er promovierte am 24. Juni 1967 mit einer Dissertation über zwei persische Santurspieler (Künstler und Amateur im persischen Santurspiel. Studien zum Gestaltungsvermögen in der iranischen Musik, Regensburg 1967)

Er schlug nicht den Weg in eine akademische Karriere ein, sondern arbeitete bei der VHS in Köln als „pädagogischer Mitarbeiter“, war zuständig für Musik und Musizieren, Kunstgeschichte, Literatur und Theologie. Die übliche Weiterbildung lehnte er konsequent ab und praktizierte in Köln eine Erwachsenenbildung im Sinne Eugen Rosenstock-Huessys. 1967 heiratete er Traute geb. Lünzmann, wurde Vater von zwei Töchtern Julia (1969) und Caroline (1972) , in zweiter Ehe mit Sigrid geb. Graf wurden Söhne David Chaim Marius(1978), Niklas Sebastian Nahum (1984), Tochter Hanna Freya (1986) und Simon Eugen Vladimir(1989).

Schon als 15-jähriger Schüler wurde Eckart von seinem Vater aufmerksam gemacht auf Rosenstock-Huessys zweibändige „Soziologie“. Für das erste gemalte Bild, das er verkaufen konnte, erwarb er 1958 den zweiten Band dieses Buches und las in den folgenden Studienjahren mit großer Intensität und außergewöhnlichem Verständnis Rosenstock-Huessys Bücher. Er schloss bald Freundschaft mit Konrad, Ulrike und Freya von Moltke, mit Anca Wittig, mit dem Leiter des Collegium Musicum Judaicum in Amsterdam, Chaim Storosum, mit den früheren Industriepfarrern Sebastian und Wilhelmus Leenman aus den Niederlanden und mit dem aus Siebenbürgen stammenden Professor Andreas Möckel in Würzburg. Unermüdlich setzte Eckart sich in seiner Lehrtätigkeit in der VHS neben seinem Engagement für Eugen Rosenstock-Huessy auch für Franz Rosenzweig, Joseph Wittig, Helmuth James von Moltke ein. In den Jahren von 1977 bis 1988 verbrachte er mit seiner Familie immer wieder die Ferien in Four Wells, Norwich/Vermont, bei Freya von Moltke. In seinen letzten Berufsjahren wurde er auf seine organisatorische Tätigkeit an der VHS beschränkt und dort daran gehindert, als Andragoge zu lehren. Er fasste aber seine gesamte bisherige Lehrtätigkeit zusammen in einer Sammlung all seiner Vorträge, Reden und Seminare unter dem Titel „Mitweg mit Eugen Rosenstock-Huessy“. Auch seine umfangreiche Sammlung der Korrespondenz zwischen Eugen und Margrit digitalisierte er und gab sie 2004 bekannt unter dem Titel „Plaudereien zu Briefen von Eugen Rosenstock-Huessy und seiner Frau Margrit“. Seit 2005 gehörte er dem Vorstand der Rosenstock-Huessy Gesellschaft an, und von 2008 bis 2015 leitete er diese Gesellschaft in unnachahmlich Art (vgl. Dr. Otto Kroesens ausführlicher Beitrag zu diesem Thema im Rundbrief August 2020, S. 3 - 13), und auch nachdem ihn Dr. Jürgen Müller als Vorsitzender ablöste, übte er als Mitglied im Vorstand einen bestimmenden Einfluss aus. Viel zu früh starb Eckart Wilkens an Leukämie und einem damit verbundenen Gehirnschlag. Ich hatte in meiner Zeit als Schüler der Aufbauschule in Bethel 1956-1959 im Geschichtsunterricht von Eugen Rosenstock-Huessy und seiner Revolutionslehre gehört, las später bei der Bundeswehr das Revolutionsbuch und während des Studiums immer wieder auch andere Bücher Rosenstock- Huessys, ohne ihren Zusammenhang wirklich zu verstehen. Ich glaubte sogar, ich könnte mit Rosenstock-Huessy ein akademisches Examen bestehen. Ich musste bald feststellen, dass dem nicht so war. Aber Rosenstock-Huessys Bücher waren mir Lebenshilfe, ich versuchte meine Erfahrungen im Jugendbund, in der Schule, im Studium, in der Ehe, als junger Lehrer und Vater von drei Kindern zu „verdauen“. Immer wieder machte ich die Beobachtung, dass dieser Mann mir in wenigen Sätzen mehr zu sagen wusste als andere in ganzen Büchern.

1974 hatte ich die Idee, innerhalb der Rosenstock-Huessy Gesellschaft so etwas wie eine Arbeitsgemeinschaft der Lehrer zu gründen, um Erfahrungen auszutauschen. Ich unterrichtete an einer Bielefelder Realschule Deutsch und Sport. So besuchte ich also in den durch die Erste Ölkrise verlängerten Weihnachtsferien 1973/74 in Bethel bei Bielefeld meinen 80-jährigen, verehrten Geschichtslehrer und Schuldirektor Dr. Georg Müller, den damaligen Präsidenten der Gesellschaft, der mir bereitwillig eine Kartothek mit allen Mitgliedern samt ihren Berufen übergab. Ich suchte einige heraus, die mit Pädagogik zu tun hatten, unter anderen auch einen pädagogischen Mitarbeiter der Volkshochschule (VHS) Köln namens Wilkens. Ich schickte allen einen Fragebogen, den ich selbst auch ausgefüllt hatte, um den Erfahrungshorizont meiner Adressaten zu erkunden. Dr. Eckart Wilkens aus Köln antwortete tatsächlich auf ein solches Ansinnen, und damit begann eine Korrespondenz, die, zwar immer wieder unterbrochen, doch vom 16. Januar 1974 bis zum 25. April 2020 dauerte. Ende Oktober 1974 besuchte ich ihn und seine erste Frau Traute mit meiner Frau und meinem Sohn Frank, der nur wenig älter als Eckarts Tochter Julia war. Ich hatte eine dicke Aktentasche dabei in der Annahme, einige mir wichtige Schriftsätze mit ihm besprechen zu können. Aber Eckart stand in der Küche, half seiner Frau, unterhielt sich mit meiner Frau, und ich konnte meine Aktentasche vergessen. Meine Frau jedoch war begeistert: kein Intellektueller, kein mit Fremdwörtern um sich werfender Wissenschaftler! Ich aber war höchst unzufrieden mit diesem Besuch. - Nur einmal in der langen Zeit hat Eckart auch mich in Bielefeld besucht und auch bei mir übernachtet. Das war bei einem Treffen mit Prof. Jürgen Frese und Mitgliedern der „Herforder Akademie“, bei dem wir beide zu sprechen hatten.

Bei einem der inoffiziellen Treffen von Rosenstock-Freunden und -lesern, die damals stattfanden, weil Georg Müller nach Rosenstock-Huessys Tod und einer schwierigen Herbsttagung 1973 keine Jahrestagungen der Gesellschaft mehr einberief, von Prof. Andreas Möckel in Mariaberg bei Würzburg organisiert, nahmen auch Eckart und seine zweite Frau Sigrid teil, und Eckart bot mir dabei das Du an. (Dabei ist zu erwähnen, dass das allgemeine Duzen innerhalb der Gesellschaft erst bei der Jahrestagung 1980 in Haarlem, nach dem Tode Georg Müllers 1978, auf Wunsch einiger Niederländer eingeführt wurde). Trotzdem Eckart von 1975 bis 2004 nicht der Gesellschaft angehörte, sahen wir uns immer wieder, denn er wurde oft als Gast bei unseren Tagungen zu Vorträgen eingeladen, und außerdem nahmen wir beide an den Internationalen Tagungen in Berlin 1985 und im Dartmouth College 1988 und auch an der Jubiläumstagung in Würzburg teil.

Aber von Anfang an stand Georg Müller zwischen uns, den ich in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode regelmäßig besucht hatte und dessen Bücher und Aufsätze ich mit großem Interesse las. Aber für Eckart stellte dieser Dr. Georg Müller so etwas wie ein rotes Tuch dar.

Eckart Wilkens hatte am 16. März 1973 im Forum seiner VHS in Köln eine erstaunliche Rede zum Tode Rosenstock-Huessys gehalten: Dienst auf dem Planeten: Er ging der Erfolglosigkeit dieses Mannes in Deutschland nach, behandelt dessen Freundschaft mit Franz Rosenzweig, sein Verhältnis zum Judentum, zur deutschen Geschichte, stellte kritische Fragen. Im Herbst dieses Jahres fand dann in Bethel eine Jahrestagung der Gesellschaft statt, bei der Georg Müller von seinem Sohn Richard eine Ansprache verlesen ließ zum Thema Eugen Rosenstock-Huessy als Lehrer universalgeschichtlichen Vertrauens (vgl. Mitteilungen, 19. und 20. Folge, Frühjahr 1974, S. 10-14). Einige Teilnehmer waren empört, ja entsetzt, denn Georg nahm seinen eigenen Lebenslauf zum Beispiel dafür, dass auch ein akademisch Gebildeter wie er selbst durchaus in der Lage sei, Rosenstocks Bücher zu lesen und das Wesentliche zu erkennen. Aber kein persönliches Wort über seine Freundschaft mit Eugen, kein Wort der Dankbarkeit für den großen Gewinn, den ihm diese Freundschaft gebracht hatte. Allerdings zitierte Georg gewichtige Sätze seines Freundes z.B.: „Die Seele aber ist das Wort, das über den eigenen Leib hinausschlägt; Die Zeiten sind Ergebnisse der gemeinsamen Geschichte, die den Menschen miteinander geschieht.”

Eckart hatte an dieser Tagung der Gesellschaft 1973 erstmalig teilgenommen und durch sein unakademisches, unprofessorales Auftreten trotz seiner akademischen Qualifikation als Dr. phil. und auch wegen seines außergewöhnlichen Vortrages in der VHS Köln sogleich die Sympathie von Freya und Konrad von Moltke, der Brüder Wim und Bas Leenman gewonnen, Georg Müller ernannte ihn immerhin formlos zum Mitglied der Gesellschaft.
Aber nach Erscheinen der 19. und 20. Folge der Mitteilungen der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft im Frühjahr 1974 schrieb Eckart vier polemische Briefe an Georg Müller und drei weitere Verfasser dieser Mitteilungen. Dabei nahm er Nietzsche, Freud, Darwin und Marx zuhilfe und warf den Adressaten Dr. Georg Müller, Prof. Dr. Dietmar Kamper, Dr. Wilfried Rohrbach und Karl-Heinz Potthast vor, dass sie nicht nach, sondern immer noch mit oder gar vor diesen vier Dysangelisten lebten. Georg zeigte mir diese Briefe und fragte mich ratlos, was er denn mit Nietzsche zu tun habe, er habe doch bereits kurz nach dem Krieg eine Schrift veröffentlicht Absage an Nietzsche!1 Eckart wartete auf Antwort, aber Georg Müller schwieg, wie auch Rohrbach und Potthast (Kamper besuchte ihn in Köln). Dieses Schweigen empörte Eckart sehr. Als ich erklärend auf ein Zitat von Margarete Susmann hinwies („Die Sprache des Alterns ist das Schweigen“), antwortete er: „Ja, aber welches Schweigen?“
Eckart erklärte dann in einem langen Offenen Brief an Georg Müller im November 1975 seinen Austritt aus der Gesellschaft . Ich war inzwischen so etwas wie Georg Müllers Assistent geworden, besuchte ihn mindestens einmal pro Woche, half ihm in vieler Hinsicht. Er legte mir jeden Brief vor, so auch den von Eckart. Ich war empört über Eckart, der es wagte mit seiner metaphernreichen, blumigen Ausdrucksweise diesen Georg Müller in die Nähe des abscheulichen Heuchlers Uriha Heep zu stellen (Charles Dickens/Rockband).


Ebenfalls in einem langen Offenen Brief an Eckart versuchte ich nun, ihm diesen Mann Georg Müller näher zu bringen: erfolgreicher Lehrer sein ganzes Leben über die verschiedensten Schülergenerationen hinweg in Deutsch, Geschichte, Religion, Philosophie; Freund des Fritz von Bodelschwingh, Freund der Jugendbewegung wie Eugen auch, beim FAD (Freiwilligen Arbeitsdienst) aktiv wie auch Eugen, Offizier wie Eugen, Kasselaner, Pferdeliebhaber usw. Ich verlangte von Eckart Geduld, Anerkennung der treuen Dienste Georgs für Eugen, kein Eifern, sondern Toleranz auch gegenüber Andersdenkenden in der Rosenstock-Huessy Gesellschaft. Darauf telefonierte er zwar freundlich mit mir, aber ohne auf all das einzugehen, was ich ihm geschrieben hatte. Wir blieben in Verbindung, aber Georg schwieg eisern, er merkte, dass er es nicht nur mit Eckart zu tun hatte, nein, auch mit der Familie von Moltke, mit den Brüdern Bas und Wim Leenman, selbst mit seinem Vorstandsmitglied Prof. Kurt Ballerstedt. Georg sprach von Schwärmern, von einer Linksopposition und wollte damit ausdrücken, dass alle diese Gruppierungen in der Gesellschaft viel zu radikale, voreilige Forderungen stellten im Ringen um eine von Eugen verlangte neue Wissenschaftlichkeit. Nach der Lektüre eines Protokolls des Pfingstfestes im Rosenstock-Huessy Huis im Jahre 1975 in Haarlem, nannte Georg Müller mir gegenüber diesen Eckart Wilkens sogar einen „Zeremonienmeister“.
Georg gab noch weitere Folgen der Mitteilungen heraus und veröffentlichte Briefe Eugens an ihn, er kämpfte um seine Autorität und schließlich nur noch resignierend um das Archiv, denn ihm war in den langen Jahren, in denen er versucht hatte, Verständnis für die Lehren seines Freundes Eugen in der deutschen akademischen Öffentlichkeit zu wecken, deutlich geworden, dass dessen Fortwirken eher durch Bücher und ein Archiv zu sichern war, als durch mündliche Überlieferung. Auch Eugen selbst hatte Georg immer wieder Texte übergeben mit dem Vermerk „Fürs Archiv“. Nach Georg Müllers Tod 1978 wurde Prof. Dietmar Kamper sein Nachfolger, versuchte mithilfe von Dr. Hermeier, auch ein Schüler der Aufbauschule in Bethel und mit mir befreundet, das Schiff der Gesellschaft unter der Parole Vielstimmigkeit auf Kurs zu halten, aber es war auch für ihn schwer, die gegensätzlichen Vorstellungen für ein Wirken im Sinne Eugen Rosenstock-Huessys zu vereinen. Dietmar veranstaltete 1985 in Berlin eine große Internationale Eugen Rosenstock-Huessy Konferenz, aber ein Jahr später gab er den Vorsitz auf, und ein guter Freund von Eckart Wilkens, Prof. Andreas Möckel aus Würzburg, übernahm 1986 das Steuer, der Gegenkandidat Dr. Rudolf Hermeier unterlag kläglich. Der neue Vorstand plante sofort eine Abkehr vom bisherigen Stil der Jahrestagungen, die Gesellschaft traf sich in Gulpen in den Niederlanden in einem Feriendorf, wo man eine ganze Woche nicht nur Vorträge hörte und diskutierte, sondern auch etwas länger zusammen lebte, wohnte, arbeitete, spielte. Das Thema war „Die Tochter“. Eine neue Zeitschrift kam heraus, Der Stimmstein, maßgeblich gestaltet von Eckart. Ich aber war weiterhin abwartend skeptisch und konzentrierte mich auf das mir von Georg Müller übergebene Archiv, das eigentlich von der Gesellschaft kaum zur Kenntnis genommen wurde. Ich blieb jedoch mit dieser Arbeit über viele Jahre in Kontakt mit den verschiedensten Mitgliedern der Rosenstock-Huessy Gesellschaft, die alle als Pfarrer, Lehrer und Hochschullehrer, als Sozialarbeiter und Ärzte versuchten, Eugen Rosenstocks Bücher zu studieren und seine Lehren vielleicht auch in ihrem Leben zu praktizieren. Für Freya von Moltke hatte ich auf ihren Wunsch schon 1975 eine Bestandsübersicht des Archivs angefertigt. Sie kämpfte darum, möglichst alle Privatbriefe aus dem Archiv zu nehmen und nach Four Wells in Vermont zu geben. Der damalige Vorstand der Gesellschaft wehrte sich, denn wir wussten, dass Eugens Briefe eigentlich alle nicht privat waren, sondern eng mit allem zusammenhingen, was er lehrte. Für Eckart war es andererseits selbstverständlich, dass diese Briefe nicht in Georg Müllers Archiv gehörten.

Seit 1992 wurde die Gesellschaft von dem jungen Sozialforscher Michael Gormann-Thelen geleitet, der über Georg Müller zur Gesellschaft gekommen war und der mit mir gut zusammenarbeitete, aber wohl keinen Kontakt zu Eckart fand. Die Gesellschaft war schon seit 1991 wieder zurückgekehrt zu Wochenendtagungen mit referierenden Gastdozenten. Immerhin setzten sich Mitglieder der Gesellschaft für ein Projekt in Mittelamerika ein, und Wim Leenman leitete Workcamps in Kreisau und knüpfte so an die Arbeitslager an, die von 1928 – 1930 in Löwenberg in Schlesien von Rosenstock-Huessy und der Schlesischen Jungmannschaft durchgeführt worden waren. In all diesen Jahren schickte mir Eckart immer wieder Beispiele seiner Arbeit in der VHS: Vorträge, Reden, Protokolle von Wochenendseminaren. Alles interessierte mich und ich studierte es eifrig, ohne es immer zu verstehen und für sinnvoll zu halten. Ich lernte sogar eine japanische Heilkunst kennen, Jin Shin Jyutsu, die Eckart seit 1982 praktizierte und mir für meine Tochter empfohlen hatte, die an kreisrundem Haarausfall litt. Im März 1988 bin ich endlich einmal abends nach Köln gefahren, um Eckart bei einem Vortrag zu hören. Er sprach zum Thema „Vier hörbare Stimmen - zum 100. Geburtstag Eugen Rosenstock-Huessys“. Er ließ Fragen zu, es kam zu hitzigen Diskussionen, am Ende musste er eingestehen: „Ach, ich habe mir mal wieder zu viel vorgenommen!“. Im Sommer desselben Jahres wohnte ich vor der großen Konferenz im Dartmouth College eine Woche bei Freya von Moltke in Four Wells, zusammen mit Eckart und Sigrid und Sohn David. Eckart fragte mich überraschend nach meinem astrologischen Wissen, und ich staunte, dass er sich mit Astrologie beschäftigte. Er hatte offenbar Gefallen an irrationalen, nicht akademisch-wissenschaftlichen Lehren, z.B. studierte er auch das chinesische I Ging. Ich konnte mich mit Eckart kaum verständigen. Er kannte mich eben als Georg-Müller-Schüler, und ich hatte den Eindruck, dass er immer aus war auf eine Konfrontation mit mir. Wir konnten uns nicht einigen über die Rolle, die Georg Müller gespielt hat, und dahinter steckte immer die grundsätzliche Frage, wie Eugens Lehren weitergesagt werden sollten: akademisch oder schon argonautisch?

Eckart Wilkens hat im Laufe seines Lebens nach eigenen Worten 430 Gedichtbände geschrieben, der Dachboden seines Hauses in Köln ist voll seiner Bilder.
Als ich 1975 das Rosenstock-Huessy Huis in Haarlem zum ersten Mal besuchte, fielen mir im Treppenhaus vier Bilder von Eckart auf, die dort an der Wand hingen: vier Aquarelle der vier Evangelisten: halb abstrakt, halb gegenständlich: liegend, stehend, sitzend, kniend. Die Bilder wirkten in ihrer grellen Art provozierend. Eckart provoziert auch mich gern immer wieder, wenn er mir Gedichte schickte, meist zu Weihnachten, einmal sogar eine Komposition zu einigen Zeilen von Paul Celan. Ich war ihm zwar dankbar, konnte aber wenig anfangen damit. 2013 schließlich, als Eckart nach einer Jahrestagung allen Teilnehmern Gedichte geschickt hatte, antwortete ich ebenfalls mit gereimten Zeilen, allerdings ziemlich aggressiv, weil ich mich empörte über seine Gedichte, die nicht nur mich überforderten. Darauf schrieb er mir einen drei Seiten langen Brief, der mich bewegte und sogar zu meiner Entschuldigung führte.

Eckart hat sich sein Leben lang mit Kunst beschäftigt. Eines seiner Hauptwerke ist über den Lyriker Paul Celan (1920-1970), der sechs Gedichtbände veröffentlichte. Eckart hatte entdeckt, dass diese sechs Gedichtbände den sechs europäischen Revolutionen zuzuordnen sind. Er hätte dieses Werk über Paul Celan gern veröffentlicht, aber dafür gab es keinen Verlag.

Allerdings hat Eugen Rosenstock-Huessy im Laufe seines Lebens ebenfalls viele Gedichte geschrieben, aber seine Gedichte waren nach meinem Verständnis immer schlichte Gelegenheitsgedichte, darunter viele gereimte Bücher-Widmungen: Mit moderner Lyrik hatte er aber wahrhaftig nichts im Sinn. Er war kein Künstler wie Eckart, sondern immer darauf bedacht, eine Sprache zu sprechen, die gehört und verstanden werden sollte, auch wenn er oft in ungewohnter Weise sprechen musste, weil er vollkommen Neuartiges zu sagen hatte. - Nach meinem Offenen Brief an Eckart schrieb mir Freya von Moltke damals am 16. März 1976 einen sehr vertrauensvollen Brief:

„Ich ehre Ihren Wunsch zu vermitteln. Bleiben Sie doch nur in der Mitte. Vielleicht kommt noch einmal die Zeit, wird es an der Zeit sein, dass Sie sich auf E.W.s Seite schlagen dürfen.“

Ich behaupte zwar, dass ich mich durchaus auf seine Seite geschlagen habe. Nachdem Dr. Herrenbrück den Vorsitz in der Gesellschaft aufgegeben hatte, wollte ich Eckart überreden, für den Vorsitz zu kandidieren, was er merkwürdigerweise ablehnte. Er wurde aber in den Vorstand gewählt und bestimmte seitdem die Art und Weise, wie die Jahrestagungen durchgeführt wurden. Auf Gastreferenten wurde radikal verzichtet, die Vorstandsmitglieder und die Mitglieder wurden aufgefordert, aktiv mitzuarbeiten. Ich verfolgte dieses Experiment mit Interesse aber auch mit Skepsis. Denn manches Vorstandsmitglied schien mir überfordert. Ich musste Eckart dann in seiner Zeit als Vorsitzender immer wieder widersprechen. Ich spürte nämlich, dass Eckart polarisierte, so dass manche Mitglieder nicht mehr zu den Jahrestagungen erschienen. Mir erschien auch diese Art und Weise, wie er die Gesellschaft führte, als ziemlich sektiererisch. Ich musste ihm z.B. auch widersprechen, als er die Verdienste von Dr. Rudolf Hermeier nicht gebührend würdigen wollte, und Eckart war sehr enttäuscht, dass er 2010 die Mitgliederversammlung nicht überzeugen konnte. Als 2014 mein Versuch einer Chronik des Lebens von Eugen Rosenstock-Huessy im agenda-Verlag erschienen war, konnte Eckart im Rundbrief lediglich darauf hinweisen, dass Georg Müllers Archiv mit dieser Arbeit Gottfried Hofmanns seine Aufgabe erfüllt habe, die Gesellschaft könne sich nun endlich der Zukunft zuwenden. 
Eckart war sicherlich ein Freund, der es immer gut mit mir meinte, aber er war auch immer mein Feind, nämlich so wie es Eugen Rosenstock-Huessy 1959 gesagt hatte:

„Jeder von uns braucht seinen geistigen Feind zur Gesundheit.“ (vgl. Die Fortschritte der Gesellschaft und die Soziologie, in: Frankfurter Hefte, 14. Jg., 1959, S. 191)

Was bedeutet aber Eugen Rosenstock-Huessys eigene langjährige Zusammenarbeit mit dem Akademiker Dr. Georg Müller, was bedeutet dieses „Fürs Archiv“, ja was bedeuteten die vielen deutschen Aufsätze und Bücher im ganzen trotz der sorgsam gepflegten Mündlichkeit seines Wirkens, trotz der Liebe zu den niederländischen früheren Industriepfarrern Sebastian und Wilhelmus Leenman, zu Freya von Moltke, zu seinen amerikanischen Schüler und Freunden? Ich wage zu behaupten:

Rosenstock-Huessy wusste, dass der Kampf gegen die Bastionen der akademischen Wissenschaft nur zu gewinnen war, indem er nicht nur auf seine persönliche Wirkung im Gespräch setzte, sondern auch auf die lange Wirkung des geschriebenen Wortes, auf die über Generationen hinaus wirkenden Bücher in seiner deutschen Sprache, auf die Tradition von Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit an deutschen Universitäten trotz aller Hoffnungslosigkeit des Verfalls dieser Wissenschaftlichkeit in der Gegenwart.

Auch Eckarts ungeheure Fülle der Arbeiten in seinen letzten zehn Lebensjahren, die Übersetzungen ins Deutsche, die Gliederungen der Texte in Eckarts eigenartiger Weise, auch die Digitalisierungen, besonders die allerletzten Massenspeicher, die er mit seinem Sohn Simon füllte, alles wird notwendig sein, wenn im Laufe der nächsten Generationen wissenschaftlicher Forschung und Arbeit ein Erfolg sich zeigen wird. Das wird vielleicht noch lange dauern, vielleicht nicht 500 Jahre, wie Georg Müller mir einmal sagte. Aber das Beispiel Theophrasts von Hohenheim, der zu seiner Zeit gegen die Scholastik für eine Naturwissenschaft kämpfte und noch heute mit seinem Spitznamen Paracelsus genannt wird, gibt zu denken. (vgl. Im Jahre des Heils 1527 in: Rosenstock-Huessy: Heilkraft und Wahrheit, Brendow-Verlag 1991, S. 114 – 153)


Wir leben heute in einer Wissenschaftsepoche, die gekennzeichnet ist durch Verallgemeinerung (vgl. Soziologie II, S. 708) aller Erkenntnisse der Naturwissenschaft, das heißt, wir sind alle geprägt von Begrifflichkeit und Logik, ob wir wollen oder nicht. Rosenstock-Huessys “Argonautik“, diese neue dritte Wissenschaft nach Scholastik und Akademik, die nicht mehr von Gott oder der Natur handelt, sondern uns Menschen gerecht werden will, die wir durch Namentlichkeit und durch unser artikuliertes Sprechen gekennzeichnet sind, diese Wissenschaft scheint noch immer in einer Phase der Genialität zu stecken. Oder sollte es schon gelungen sein, eine neue Wissenschaft daraus zu machen? Sind wir noch bei Goethe und Saint Simon oder bereits darüber hinaus? Was bedeutet das Scheitern von lebenslangen Bemühungen, Eugen Rosenstock-Huessys Lehren zu verbreiten, sowohl eines Georg Müller in Schule und akademischer Wissenschaft als auch das von Eckart Wilkens in seiner Institution Kölner VHS? Ich kann nur den Schluss daraus ziehen, dass wir tatsächlich noch immer in der Phase der Genialität stecken. Eckart hat uns allerdings ein Vermächtnis hinterlassen. Er hat durch seine intensive Ausbildung als Musiker auf das Hören so viel Wert legen können, dass er in allen Texten Rosenstock-Huessys dessen Kreuz der Wirklichkeit heraushören konnte, nämlich Rosenstock- Huessys trajektives, präjektives, subjektives und objektives Sprechen. Er wusste auch als Musiker, wie wichtig die Zeit beim Hören ist. Die eigenartigen Gliederungen, mit denen er die Texte Rosenstock-Huessys versah, sind mindestens insofern wichtig, als man als Leser genötigt wird, die geschriebenen Sätze sich als gesprochene Sätze vorzustellen. Rosenstock-Huessy hat sicherlich einen Ozean von Tinte befahren, wie er einmal schrieb. Aber er war eben doch kein Schriftgelehrter wie sein Freund Georg Müller, sondern ein mündlicher Mensch, der in der Lage war, zweimal seine wertvolle Bibliothek zu verkaufen. Seine Vorlesungen waren selten Vorlesungen, meist hatte er nur wenige Notizen, die ihm genügten. Er sprach immer frei und „ungeschützt“, er zitierte nach dem Gedächtnis und nicht immer wörtlich exakt. Auch Eckart sprach oft völlig frei und vertraute auf die Wirkung des gesprochenen Wortes.

Nun ist er nicht mehr unter uns, aber er hinterlässt ein riesiges digitales Erbe, aus dem viel zu lernen sein wird (vgl. neuerdings www.eckartwilkens.org). Ich bin überzeugt und glaube fest daran, dass Eckarts Wirken nicht vergeblich war, dass seine Zeit noch kommen wird, genauso wie auch die von Eugen Rosenstock-Huessy.

Gottfried Hofmann (Stand: 20.03.2023)

aus: ERHG Mitgliederbrief 2023-05
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  1. Georg Müller, Nietzsche und die deutsche Katastrophe, Privatdruck, Bielefeld Bethel 1946; Ders. Absage an Nietzsche, Privatdruck, Bielefeld Bethel 1945.